Zu Besuch in einem besonderen Haus: Das Chiemseehospiz in Bernau ist ein Ort zum Leben
Bernau | Es ist eine moderne Haustür, wie sie viele Neubauten haben. Anthrazitgrau, schnörkellos, ohne Klinke, dafür mit langer, hölzerner Griffleiste. Vor zwei Jahren wurde sie im neuen Chiemseehospiz in Bernau eingebaut. Wer hier einzieht, kommt in den allermeisten Fällen nicht mehr lebend raus. Warum es dennoch ein Haus voller Leben ist, erfuhr unsere Mitarbeiterin Kathrin Bauer bei ihrem Besuch.
Es ist ein trister Morgen. Nebel hängt über dem Achental, als ich über die Autobahn nach Bernau fahre. Das Navi führt mich an den Ortsrand, mitten in ein Wohngebiet. Ein modernes Gebäude ist mein Ziel, schwarze Fensterrahmen, kein Dachüberstand, Holzverschalung. Dem Wetter angepasst ist meine Stimmung – trist. Ich bin angespannt. Immerhin habe ich einen Termin im Hospiz. Einem Haus, in das Menschen einziehen, um zu sterben. Und so sehr ich mich auch bemühe, das Thema Tod betrübt mich.
Vor zwei Jahren wurde das Chiemseehospiz in Bernau eröffnet. Es wird getragen von einem gemeinsamen Kommunalunternehmen der Landkreise Rosenheim, Traunstein und Berchtesgadener Land, sowie der Stadt Rosenheim. Eine Besonderheit. In den zehn Zimmern leben Menschen, die unheilbar krank sind und nur noch kurze Zeit zu leben haben. Die Menschen müssen nicht mehr im Krankenhaus behandelt werden, zu Hause oder in einem Pflegeheim können sie aber nicht entsprechend versorgt werden. Menschen am Lebensende ein würdiges Leben und Sterben in vertrauter Umgebung zu ermöglichen, ist das Ziel dieser kleinen, selbstständigen Einrichtung.
Als sich die große, dunkelgraue Tür öffnet, bin ich überrascht: Es ist taghell im Gebäude. Ein Gang führt im Kreis um einen Lichthof herum, der nur durch Glaswände Innen und Außen trennt. Ein Christbaum leuchtet im Hof. Vom Gang geht es in die Zimmer. Auch die sind großzügig und hell mit großen Fenstern und Terrassen. Auf Tafeln an den Türen steht – mit Kreide geschrieben – wer hier wohnt. Es sind Menschen ganz unterschiedlichen Alters – gerade erst erwachsengewordene, in der Mitte ihres Lebens oder schon im hohen Alter. Frauen und Männer. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie werden sterben. In wenigen Stunden vielleicht, in Tagen oder Wochen.
Und dennoch ist nichts gruselig an diesem Ort. Überall lächeln einem Menschen entgegen. Aus einem der Zimmer schwingt Musik in den Gang. Es riecht gut, nach Holz und Essen aus der offenen Küche, in der die Hauswirtschafterin gerade Mittagessen zubereitet. Ein Bewohner sitzt mit seiner Frau bereits an einem der Tische und isst.
Ich bin verabredet mit Katharina Weil (30) und Petra Laubhuber (50), die eine Psychologin, die andere Krankenschwester im Chiemsee-Hospiz – zwei eines fast 40-köpfigen Teams, das sich um die Bewohner kümmert. Sie waren beide vorher auf Palliativstationen tätig. Was ist der Unterschied, frage ich. Schließlich geht es in beiden Einrichtungen ums Sterben. »Es geht immer ums Leben«, widersprechen mir die Frauen sofort.
Anders als auf einer Palliativstation ist im Hospiz kein Arzt angestellt. Es kommen Hausärzte bei Bedarf ins Haus. Das Pflegepersonal müsse also vorausschauender arbeiten, erklärt Petra Laubhuber. Und wirklich sehr viel Fachwissen haben. Der größte Unterschied aber ist der Auftrag. In einer Palliativstation im Krankenhaus gehe es auch noch darum, die Patienten »weiterzuvermitteln« – nach Hause oder in ein Pflegeheim, sofern das möglich ist. »Wir sind der letzte Ort. Hier dürfen die Menschen bleiben«, so Laubhuber. Ein beruhigendes Gefühl für sehr viele Bewohnern, wie beide Frauen erzählen. Meist haben diese einen schweren Weg hinter sich, ehe sie in Bernau ankommen. »Sie sind hier, um zu leben. Und es dabei noch so schön, wie möglich zu haben«, so die 50-jährige Krankenschwester. Dafür wird ein großer Aufwand betrieben.
130 Bewohner haben Katharina Weil und Petra Laubhuber in den letzten beiden Jahren kennengelernt und in den Tod begleitet. Es sind bewegende Geschichten und Schicksale. Katharina Weil erinnert sich an eine »tolle, bewundernswerte Frau«, die – Mitte 50 – »so wach, dankbar und aufgeräumt war mit ihrem Leben«. Sie sei neugierig gewesen auf den Tod und habe sie täglich zum Abschied gefragt: »Sehen wir uns noch mal?« Petra Laubhuber indes erzählt von einer älteren Dame, die total verhärmt zu ihnen gekommen sei und zunächst alle Hilfe verweigert habe. Kurze Zeit später habe sie gesungen, gelacht und hatte Freude am Leben. Ihre Tochter hat später gesagt, sie habe ihre Mutter noch nie so glücklich gesehen, wie in den letzten Tagen vor ihrem Tod. Hier durfte sie zum ersten Mal sein, wie sie ist.
»Wir wollen die Selbstbestimmung ganz lange erhalten. Bei uns sind die Bewohner die Chefs und sagen, was sie möchten«, erklärt Laubhuber eine weitere Besonderheit im Hospiz. Manche Bewohner wollen abends zum Beispiel lange fernschauen und morgens lange schlafen. »Das dürfen sie bei uns. Wir lassen die Menschen Menschen sein.« Und »wir haben Zeit, uns zu kümmern; für die Bewohner und auch für die Angehörigen da zu sein«, ergänzt Katharina Weil.
Es sei eine Herzensarbeit, eine ehrliche Arbeit. Man lerne Menschen in kurzer Zeit ganz intensiv kennen und bekomme unglaublich viel zurück. Ein Gedenkbuch im Gang – mit Fotos und Sterbebildern bestückt – erzählt viele dieser Geschichten und macht die Dankbarkeit der Angehörigen sichtbar: »Mei Mama is bei eich in guade Händ, des is für uns in der schwierigen Zeit des größte Geschenk«, schreibt etwa eine Angehörige.
Natürlich sei es nicht immer nur schön. »Es gibt auch ein grausames Sterben«, trotz aller Bemühungen. Aber auch das gehöre zum Leben, sagt die 50-jährige Krankenschwester. Beide Frauen wirken bei ihren Erzählungen sehr ausgeglichen und dankbar. Die Arbeit im Hospiz hat auch ihre Einstellung zum Leben verändert. Täglich würden sie von den Bewohnern lernen, wie kostbar und wertvoll das Leben ist. Und dass man es leben und nicht zu vieles aufschieben sollte. »Menschen, die vorher gelebt haben, gehen friedlicher«, erzählt Laubhuber.
Als ich wieder zur Tür gehe, fällt mir eine große Kerze auf. Sie brenne immer 24 Stunden lang nachdem ein Bewohner verstorben ist, erzählt Katharina Weil zum Abschied. Gerade brennt sie nicht.
Ich gehe also wieder nach draußen. Es ist immer noch trüb, der Nebel hat sich festgehängt. Und doch hat sich meine Stimmung gewandelt. Ich bin dankbar – für diese Begegnungen und dass es Einrichtungen, wie das Hospiz in Bernau gibt. Es ist ein guter Ort. Ein Ort zum Leben.
Text/Foto: © Traunsteiner Tagblatt
Bericht vom 13.12.2022 „Selbstbestimmt bis zum Schluss“ – Adventskalender Tür #13